Bericht im Oktober 2015
Ihnen allen herzliche Grüße,
hier kommt ein Rundbrief, der lange auf sich warten ließ, da es so viel zu tun gibt. Nach meiner Rückkehr aus Afghanistan Anfang September möchte ich Ihnen nun Neuigkeiten mitteilen. Jetzt klopft der Winter an die Tür und ich habe bereits ein Visum für die nächste Reise im November beantragt.
Die Sommerreise
Man kann nicht gerade von einem Urlaub sprechen, aber immerhin gab es auch einige Urlaubsgefühle. Denn es war warm, ich musste nicht kochen und wurde während des Aufenthalts in Afghanistan chauffiert. Ich absolvierte einen kurzen Aufenthalt von Ende August bis Anfang September. Die Situation in den Dörfern war anscheinend unverändert und wir, die Stickerinnen und ich, begegneten uns erneut mit inzwischen üblich gewordener Selbstverständlichkeit und großer Freude.
Allerdings erzählten sie mir schreckliche Dinge, die beweisen, dass der Krieg in diesem Land, das seit 30 Jahren zerstört wird, noch nicht zu Ende ist. So wurde ein Sohn im Alter von 18 Jahren, der in der Provinz Kandahar im Militärdienst war, von den Taliban ermordet; ein anderer 18-jähriger Sohn wurde einige Kilometer entfernt von einer Minenexplosion getötet. Alles junge Männer, Hoffnungen der Familie kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben.
Aber es sind auch zwei Ehemänner wegen Drogenhandels im Gefängnis. Nicht nur, dass sie für die Familien kein Geld mehr verdienen, sie sind auch noch anspruchsvoll und bedrängen ihre Frauen, sie regelmäßig im Gefängnis zu besuchen, um ihnen Brot zu bringen und sich um ihre Wäsche zu kümmern und vieles andere mehr.
Diese stressreichen Situationen sind nur verkraftbar, weil die Frauen von der Familie und dem Familien-clan unterstützt werden. Dennoch stürzen derartige dramatische Ereignisse sie noch stärker in finanzielle Not und Elend. Die Frauen dieser Familien haben keine Stickereien abgegeben, da die Trauer, der Verlust, der grundsätzliche Stress und die permanenten Besuche sie am Sticken gehindert haben.
Eine glücklichere Geschichte: zwei Frauen derselben Familie, die Mutter Mahjan und die Tochter Shieba hatten ebenfalls keine Zeit zum Sticken gehabt, da sie im Sommer zu sehr mit der Arbeit im Blumengarten beschäftigt waren. Ich hatte bereits mehrfach erwähnt, dass die Möglichkeit, Geld zu verdienen, für die Frauen in diesen Dörfern extrem gering ist. Die genannte Familie pflanzt Blumen an, die im Sommer von den Männern auf dem Basar von Kabul verkauft werden. Jetzt verstehe ich, wieso Mutter und Tochter so gerne Blumen, gul, und Vögel, parenda, sticken, wobei noch zu erwähnen ist, dass Shieba besser zu sticken versteht als ihre Mutter. Das sind also ihre wiederkehrenden Motive, bei denen Shieba Meisterschaft beweist, wie das Foto von einer ihrer Stickereien zeigt, die sie im Frühling abgegeben hat. Ich füge noch ein Quadrat von Iqlima hinzu, das eine Blumenverkaufsszene zeigt.
Mahjan hat mich gebeten, ihr Blumensamen zukommen zu lassen, da sie versuchen möchte, neue Sorten zu kultivieren. Wenn Sie sich von dieser Bitte angesprochen fühlen sollten, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir Samen, ob aus kommerzieller oder eigener Produktion (jeweils mit einem Foto der Schnittblume) zuschicken würden. Ich bedanke mich im Voraus.
Eine andere Gruppe von Frauen hat nur wenige Stickereien abgegeben, und zwar die jungen Mädchen. Es ist wie eine glückliche Offenbarung: mehrere dieser Mädchen aus zwei von drei der Dörfer haben weniger eingereicht als sie hätten abgeben dürfen. Zu erwähnen ist, dass die Mädchen im dritten Dorf (mit dem Namen Sufian) nicht zur Schule geschickt wurden. Ich erinnere Sie daran, dass ich für jede Frau, jedes Mädchen eine Anzahl von Stickereien fixiert hatte, die sie pro Quartal maximal abgeben durften, und zwar abhängig von ihrem Alter, der Qualität und dem Stickstil. Im Allgemeinen durften die Mädchen nicht mehr als 10 Quadrate pro Quartal abgeben. Mehrere unter ihnen haben diese Maximalzahl nicht erreicht und sagten mir: „Ich musste zu sehr für die Schule und die Examina arbeiten“. Ich habe mich über diese vernünftigen Ansichten sehr gefreut, denn damit wurden sinnvolle Schwerpunkte gesetzt, und zwar für die Schule und nicht für die Stickereien, deren finanzielle Lukrativität für die Mädchen ja durchaus reizvoll ist.
Eine persönliche, aber auch von anderen geteilte Gewissheit: eine neue Bewusstseinsbildung der Väter entsteht, dass ihre Töchter in die Schule gehen sollten. Auch die Mädchen verstehen diese neue Chance und widmen sich aktiv dem Lernen. Auf diese Weise kommen die Mädchen aus dem Haus heraus und aus dem inneren Hof, treffen Schulkameradinnen, die nicht zum engen Familienkreis gehören, entdecken die Welt außerhalb der Familien- und Clanmauern sowie ungeahnte Möglichkeiten. So werden physische und intellektuelle Grenzen zurückgedrängt. Sie träumen davon, Ingenieurinnen, Medizinerinnen oder sogar Pilotinnen (s. Hamida) zu werden! Wer von ihnen wird den Durchbruch schaffen? Diese Möglichkeit, die den Mädchen erlaubt, ihr Schulleben zu regeln, ist bereits etwas, das es vor 10 Jahren noch nicht gab. Man kann sagen, dass hier bereits eine kleine Revolution im Gange ist.