Sticktradition in Afghanistan
und Laghmani

Laghmani ist ein Dorf ungefähr 70 km nördlich von Kabul. Hier hatte die DAI 2003/04 ein Frauenzentrum gegründet, in dem Frauen u.a. durch Schneider- und Alphabetisierungskurse in die Lage versetzt werden sollten, mit Auftragsarbeiten ein gewisses Maß an Selbständigkeit zu erwerben. Durch mich kam ein Stickprojekt hinzu. Bei der Anwendung der verschiedenen Sticktechniken, die die Frauen in Laghmani wiedererlernen konnten, entwarfen sie selbst die Muster, die auf einer traditionellen Basis beruhen. Von meiner Seite gab es ein paar Vorgaben: es sollten 8 x 8 cm große Quadrate vollflächig und mit dem gelieferten Material (Stoffe und Garne aus Deutschland) gestickt werden. Ab Sommer 2004 wurden die hergestellten Quadrate den Frauen von Laghmani abgekauft und gelangten nach Freiburg. Meine Überlegung für Deutschland und Europa zielte auf eine Art Patchwork mit traditionellen Mustern, wobei Stickerei und Patchworktechniken sich ergänzen. Dabei können die bestickten Quadrate hervorragend als Blickpunkte eingesetzt werden. Das Ergebnis sind symbolisch wirkungsvolle Patchworkstücke, bei denen nicht nur 2 Techniken miteinander kombiniert, sondern vor allem 2 Kulturen miteinander verbunden werden. Erste Patchworkstücke waren überzeugend (Decken, Taschen, Buchhüllen usw.). Sie dienten künftig als Muster und Anregung.
Die ausgeprägte Sticktradition Afghanistans war in den letzten Jahrzehnten zum Erliegen gekommen. Das Angebot im Basar Kabuls zeugte allerdings noch vom Reichtum der Motive und Farbkombinationen, von guter Technik und hoher Improvisationskunst. Die Frauen in Laghmani hatten allerdings für solche Arbeiten keine Zeit mehr, da sie durch ihre häuslichen Verpflichtungen viel zu sehr beansprucht waren. Einige alte ausgediente Stücke konnte ich allerdings noch erwerben.

Die Frauen kennen lernen

Bei meiner Reise nach Laghmani ging es mir vor allem darum, die Frauen dort endlich persönlich kennen zu lernen, aber auch mit ihnen 2 Wochen lang einen Kurs durchzuführen und sie dabei zu erleben. Vorgesehen war es, den Frauen (junge Mädchen und erwachsene Frauen, von denen etwa die Hälfte Witwen sind), die sowohl nähen als auch Quadrate sticken können, technische Lösungen vorzuführen, wie sich die bestickten Quadrate mit Nähtechniken (Patchwork) ergänzen lassen, um daraus Produkte wie Kissen, Taschen und kleine Decken herzustellen. Dabei sollte ihnen geholfen werden, sich eine eigene Textilhandschrift anzueignen sowie ein kleines Verkaufsnetz im eigenen Land aufzubauen, um in vielleicht 3 bis 5 Jahren eine finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen.
Die Vision einer netten Europäerin ließ sich mit der Realität und dem Alltag dieser Frauen nicht vereinbaren. Für sie stand das tägliche Überleben im Vordergrund. Für ein zukunftsträchtiges Unternehmen fehlten Teamgeist und auch äußere Voraussetzungen wie Betreuung und geeignete technische Gegebenheiten. Zudem dürfen die meisten Frauen ihr Dorf, einige auch ihr Haus gar nicht verlassen, manche nicht einmal zur Bezahlung. Und ich hatte naiverweise gedacht, dass es für sie sehr spannend sein könnte, Produkte zu entwerfen, dabei die Techniken auszutüfteln und ein Verkaufnetz aufzubauen!

Das Sticken selbst

Die bestickten Quadrate, die bis jetzt abgeliefert wurden, waren fast alle mit einer einzigen Farbe angefertigt. Manche Arbeiten wirkten dadurch langweilig und spannungslos.
So leerte ich am ersten Tag im Kursraum einen Sack voller Stickgarne in allerlei Farben aus. Die Frauen bekamen die Aufgabe, fünf verschiedene Farben auszuwählen, die nach ihrem Geschmack zusammenpassen. So stellten sie mit viel Vergnügen Serien zusammen. Ausnahmslos waren die Serien geglückt, so dass ich wirklich sagen kann, dass die Frauen ein sehr gutes Gefühl für Farben haben.
Ich bat sie darum, von nun an drei bis fünf verschiedene Farben pro Quadrat zu verwenden, was auch bedeutet, mit den Farben auf der Fläche zu spielen und die Flächen frei zu gestalten. Die Quadrate, die nach dieser neuen Vorgabe bestickt worden sind, zeigen ein hohes Potential an Individualität; viele Frauen haben ihre persönliche Handschrift gefunden (innerhalb einer fundierten und kollektiven Tradition), was ich als sehr wertvoll erachte.
Dies ist nicht selbstverständlich. Auch in Europa wurde lange und wird teilweise noch nur nach Vorlagen und Anleitungen gearbeitet. Improvisation ist ungewöhnlich in diesem Bereich.
In Afghanistan, genauer gesagt in Kabul, habe ich in den 3 Wochen viele bestickten Arbeiten gesehen (im Rahmen verschiedener Frauenprojekte, in denen auch gestickt wird), Meisterwerke in Sachen Technik zwar, bei denen jedoch die Frauen jahrelang das selbe Muster endlos wiederholen. Ich finde es nicht erstrebenswert, solche Serienarbeit zu fördern. Ganz im Gegensatz dazu zeigen die ersten frei gestalteten Quadrate der Kursteilnehmerinnen, auch wenn sie technisch noch nicht perfekt sind, gelungene Improvisationen, die wie kleine Bilder betrachtet werden können; dadurch unterscheidet sich dieses Projekt grundsächlich von anderen.
Ich denke, man kann diese Stickweise sogar als eine Art Therapie betrachten, bei der die Frauen für ein paar Stunden die Chance erhalten, sich frei mit den Farben und mit sich selbst zu beschäftigen. Diese Beschäftigung hat auch etwas Meditatives, wobei die Stickerin in ihr Bild eintaucht und den Alltag für eine kleine Weile vergessen kann.
In der technischen Ausführung müssen noch Fortschritte gemacht werden. Es geht wesentlich auch darum, diese alten Techniken wieder zu beleben und nicht zu verlieren.

Vertrieb

Die Quadrate werden einzeln oder in kleinen Serien zum Verkauf angeboten. Viele Quadrate wurden bereits angekauft, und ich würde gerne Bilder von fertig gestellten Werken sammeln, um daraus eine Mappe zusammenzustellen. Ich werde auch eine Art Katalog erstellen, in dem die gelungensten Quadrate gesammelt werden. Man kann sich vorstellen, dass sie bei zukünftigen Bestellungen eine anschauliche Orientierung geben können.
Es sieht so aus, dass ich zunächst die bestickten Quadrate doch weiterhin einkaufen werde, um sie in Deutschland zu vermarkten, bis andere Konzepte für die Entwicklung vor Ort gefunden werden. Da ist Marketing-Fantasie gefragt und ich habe bereits einige Ideen.
Im Herbst zum Beispiel werde ich die Ausschreibung zur Koffer-Textilarbeiten-Ausstellung „Von Frauen für Frauen“ ankündigen, bei der mindestens ein besticktes Quadrat in jedem Stück verarbeitet werden muss. Ich erhoffe mir daraus, unsere 2 Kulturen aufeinander zukommen zu lassen.

Hinweis

Viele weitere Informationen findet man in der Langfassung meines Berichts. Beispielsweise Genaueres über die persönlicheren und auch intimeren Gespräche mit den Frauen und meiner Dolmetscherin und Helferin Weeda. Auch über mein eigenes Leben in Kabul und die Schwierigkeiten, überhaupt dorthin zu gelangen, werden Informationen angeboten.