Bericht von der Winterreise 2006/07 – Kabul

Die erste Reise im Winter

hat sich von selbst und zwangsläufig ergeben, weil ich im schönen Frühling 2007 keine Zeit für eine Reise vorsehen kann. Die Hintergründe kann man in der ausführlichen Fassung dieses Berichts erfahren. Dort berichte ich auch über den Winter und die Kälte in Kabul und wie man damit umgeht, ferner auch über das Id-Fest.

Das Wiedersehen mit den Frauen und die Bezahlung der ersten Lieferung

Die zwei ersten Tage waren ganz dem Bezahlen der Frauen gewidmet. Seit dem Frühling 2006 ist ein neues System der Bezahlung eingeführt worden: die mit Quadraten bestickten Tücher werden von Leiluma und Khaled eingesammelt und mir zugeschickt. In Freiburg packe ich aus, registriere, zähle die Quadrate nach und mache die Preise. Anhand dieser Liste weiß ich, wie viel Geld nach Kabul überwiesen werden muss. Alle Infos werden tabellarisch erfasst, die Tabelle wird nach Kabul geschickt. Khaled legt dann die Geldsumme für jede Stickerin in einen Briefumschlag. Bei meiner Ankunft war also alles für die Auszahlung bereit. An den ersten zwei Tagen verteilte ich das Geld, gerade zum rechten Zeitpunkt, da alle sich für das Id-Fest vorbereiteten, was auch zusätzliche finanzielle Ausgaben bedeutet. Noch lange hatte ich das Gefühl, dass mir an diesen Tagen das Beste im Jahr gelungen war.

Wie es bei der 2. Runde ging

Wegen des Festes vollzog sich dann alles sehr zielstrebig. Die Tücher wurden eingesammelt und dabei systematisch kommentiert, damit die Stickerin besser versteht, was ich interessant oder im Gegenteil langweilig finde. Dies ist die spannendste Tätigkeit des Projektes: zu versuchen, in eine Richtung zu lenken, aber trotzdem dabei eine relativ große Freiheit für die Entwicklung des Eigenpotenzials zu belassen. Mir geht es immer darum, dass die Stickerin ihre Stick-Handschrift findet und pflegt. In einem vierten Dorfteil Laghmanis, wo noch niemand gestickt hatte, wurde eine Prüfung für Frauen und Mädchen durchgeführt. Am ersten Tag erfolgte eine Information über das Projekt. Dann wurde Material verteilt. Bis zum nächsten Tag war die Hälfte eines Quadrats zu sticken. Am folgenden Tag wurde unter Beobachtung fertig gestickt, sodass garantiert war, dass jedes Mädchen selbst gestickt hatte. Insgesamt haben jetzt 167 Mädchen und Frauen einen Vertrag.
Während der Festtage legte ich die Preise für alle eingesammelten Tücher fest und bestimmte, wie viele Quadrate jede Stickerin in Zukunft sticken kann. Wegen der begrenzten Verkaufsmöglichkeiten in Europa, musste ich Maßnahmen zur Beschränkung treffen: Die neu dazu gekommenen Frauen sowie die sehr jungen Mädchen dürfen nur 10 Quadrate sticken, die älteren Mädchen, die auch länger beim Projekt sind, 20 Stück. Das war sehr schmerzhaft, da sie vorher teilweise 30 oder sogar mehr sticken durften. Schade auch für das Projekt, weil sie teilweise so großartig sticken, dass keiner glauben würde, ein junges Mädchen habe dies gestickt. Geachtet habe ich auch darauf, ob mehrere in einer Familie sticken oder nur eine (Mutter und Töchter z.B.). Ich habe es eher bei den Mütter gelassen (so lange die Qualität gestimmt hat), dass sie weiterhin so viele Quadrate sticken dürfen; sie sind diejenigen, die für die Familie aufkommen müssen und ihre Mädchen, die eventuell mitsticken, behalten das Geld für sich selbst.

Die 3. Runde und der Abschied

Bezahlt wurde dann, das zweite Mal innerhalb von 10 Tagen, also praktisch soviel wie in einem halben Jahr zusammen. Das heißt auch, dass die Frauen erst wieder im Juni bezahlt werden, also eine lange Zeit zu überbrücken haben. Ob sie das Geld gut einteilen werden oder mit so viel Geld umgehen können? Material wurde verteilt und auch angekündigt, welche Menge für jede zugelassen ist. Der Wettbewerb unter all diesen Frauen ist groß und das akzeptieren sie vernünftigerweise auch, wohl wissend, dass so viele mitwirken. Es gilt: Wer gut stickt, kann 10 Quadrate mehr bekommen, wer nicht gut gestickt hat, bekommt beim nächsten Mal 10 Quadrate weniger zu sticken. Bei denjenigen, deren Arbeiten zunehmend schlechter werden, wird der Vertrag aufgekündigt. So war das auch tatsächlich bei 12 Frauen. Es war emotional sehr belastend, ihren Vertrag zerreißen zu müssen. Nur zwei haben eingestanden, dass sie nicht gut genug sticken können.
Die Treffen mit den Frauen finden stets bei irgendeiner der Frauen statt. Darunter ist auch Shabana, die trotz ihrer Jugend (22) schon das neue Amt einer Dorfältesten innehat. Darüber hinaus war sie kürzlich 22 Monate lang Lehrerin im Dorfteil und hat ein Lernprogramm der USAID durchgeführt hat: für 25 Mädchen zwischen 12 und 22 hat sie an fünf Tagen in der Woche zwei Stunden am Tag Schreiben, Lesen, Mathematik- und Korankunde unterrichtet. Die Schülerinnen sind junge Frauen, die nie in die Schule gegangen sind und sie auch nie besuchen werden, weil sie jetzt zu alt sind oder der Weg zur Schule zu weit ist. Nach einem Gespräch mit Shabana hat sich herausgestellt, dass in diesem Dorfteil sowie anderen Teilen Laghmanis weiterhin Bedarf wäre, auch wenn das USAID-Programm abgeschlossen ist. Die DAI, hat beschlossen, das Programm in dieser gelungenen Form (auch mit dem vorhandenen Lernmaterial mit Einverständnis der Amerikaner) in jedem Dorfteil Laghmanis zu wiederholen. Die entsprechenden vier Löhne für die 22 Monate werden vom Gewinn des Quadratverkaufs bezahlt.

Bemerkungen

Allgemein sticken die Frauen technisch immer besser, aber auch ihre Motive werden immer lebendiger und charaktervoller. Es erstaunt mich immer wieder in höchstem Maße, welch ein künstlerisches Potenzial Frauen besitzen und entwickeln können, obwohl sie an keiner Schulausbildung teilnehmen konnten, obwohl sie zwei Jahrzehnte auf der Flucht waren, ums nackte Überleben kämpfen und bedrückende Dramen miterleben mussten und obwohl sie letztlich kaum Kontakt zur Außenwelt hatten und haben. Ich bin von ihrer Fantasie und oft auch von ihrem Mut zu künstlerische Freiheiten tief beeindruckt! Es ist ihnen gelungen, auf der Grundlage ihrer Tradition einen konkreten zeitgenössischen Weg der persönlichen Ausdruckform zu finden. Diese Eindrücke führen mich zu der Erkenntnis, dass es für viele Menschen in Europa bereichernd sein kann, diese Arbeiten kennenzulernen und aus den Hintergründen ihrer Entstehung womöglich auch etwas für die Bewältigung des eigenen Leben zu lernen.

Hinweis

Viele weitere Informationen findet man in der Langfassung meines Berichts (pdf-Datei oben links).