Rosemarie Artmann-Graf
»Eisblume«
Stickerin Dehljan

Das Alpenveilchen und die Eisblume

Da die leere Fensterbank zwischen Vorhang und Scheibe manchen Leuten zu kahl aussieht, stellen viele eine Topfblume auf die leere Bank. So kam es, dass das Alpenveilchen zwischen Gardine und Fenster gesetzt wurde. Es fühlte sich da sehr einsam, da es mit keiner anderen Blume sprechen konnte. In den ersten Tagen vertrieb sich das Alpenveilchen die Langeweile damit, die Vögel im Vorgarten zu beobachten. Doch bald schon wurde es Winter, die Vögel waren nicht mehr so fröhlich, und die Tage zogen sich ganz dunstig und grau an. Da wurde das Alpenveilchen traurig und liess sein Köpfchen hängen. Es hatte keine Lust mehr, so alleine zu sein. Draussen wurde es bitter kalt. Schnee und Glatteis kamen über Nacht. An diesem Morgen traute die einsame Blume ihren Augen nicht. Sie hatte Besuch bekommen. Eine wunderschöne Eisblume war über Nacht auf der Scheibe gewachsen. Ganz verwirrt sagte das Alpenveilchen: »Guten Morgen. Wer bist du, wie kommst du hierher?« »Der Frost hat mich auf die Scheibe gesät, und heute früh bin ich aufgeblüht.« Die beiden Blumen staunten einander an und schwiegen. Endlich sagte die Eisblume: »Ich beneide dich sehr. Du bist so schön und bunt. Blühst du schon lange auf der Fensterbank?« Das Alpenveilchen seufzte: » Ja, schon sehr lange. Ich bin ganz verzweifelt, weil ich so alleine bin. Ich bin die unglücklichste Blume, die es gibt.« »Du bist dumm«, antwortete der Gast auf der Scheibe zornig, und seine Eiskristalle glitzerten. »Du hast es doch so gut. Du darfst doch monatelang blühen und musst nicht so schnell sterben wie ich.« Aufgeregt schwärmte nun die Eisblume dem Alpenveilchen vor, wie wunderbar doch das Leben einer richtigen Blume sein müsse. Nie brauche sie Angst vor den Sonnenstrahlen zu haben. Sie könne ganz in Ruhe wachsen, ohne jede Furcht vor dem nächsten Tag, vor einem möglichen Witterungsumschwung. »Mein Leben geht so schnell vorbei«, sprach die Eisblume weiter, »ehe ich nicht weiss, ob…« In diesem Moment brach die Sonne durch die Wolkendecke und schickte ein paar warme Strahlen auf die Fensterscheibe. Die Eisblume konnte ihren Satz nicht zu Ende sprechen, schon war sie nicht mehr zu sehen. Nur drei Wassertränen liefen die Scheibe herunter.
Text von Rosmarie Artmann-Graf

Dehljan ist im Frühling 2013 an Krebs gestorben.